WUT, SCHAM UND CO

// Umgang mit großen Gefühlen



 

 

Starke Gefühle ...

zuzulassen und mit ihnen umzugehen fällt uns oft schwer. Als Erwachsene haben wir zumeist im Laufe unseres Lebens gelernt uns anzupassen, zurück zu nehmen und heftige Gefühle wie Wut, Trauer, Zorn und Scham unter Kontrolle zu halten, zu ignorieren oder einfach nicht ernst zu nehmen.

Dennoch suchen sie uns immer wieder auf und sind aus unserem Leben nicht wegzudenken. Und das ist gut so, denn starke Gefühle verlangen Respekt, sie sind ein Ausdruck von Vitalität, gewähren Orientierung und wollen uns etwas mitteilen.

 

Wenn uns schon das Erleben des eigenen Gefühlscocktails auf eher unsicheres Terrain führt, wie begegnen wir dann den zunächst in der Regel ungefilterten Emotionen unserer Kinder? Wenn wir den Mut haben, uns auf den Weg zu machen, verschüttete Emotionen auszugraben oder verbannte achtsam ins Licht zu bitten, entsteht oft eine überraschend neue Dynamik, die ihre Wirkung weit ins Familiensystem und andere Beziehungskonstellationen entfaltet.

Im tieferen Verständnis unseres eigenen Erlebens, erhalten wir einen viel leichteren Zugang zur Gefühlswelt anderer. Wir können lernen etwa Trotz, Aggressionen, Wut oder Scham mit neugierigerem Blick zu betrachten und alternative Umgangsformen auszuprobieren. 

  

 

Wut ...

ist ein gesellschaftlich nicht akzeptiertes Gefühl. Vielleicht, weil wir Wut automatisch mit Schädigung anderer Personen assoziieren. Aber sie lässt sich auch nicht wegdrücken - zumindestens nicht wirklich, denn Wut ist höchst vital und machtvoll.

Nicht ausgelebt richtet sie sich im Endeffekt meist gegen uns selbst. Denn Wut bedeutet für den Körper Stress und kann, wenn sie regelmäßig unterdrückt wird, eine Vielzahl Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Beschwerden, das Risiko eines Herzinfarktes oder zum Beispiel Bluthochdruck auslösen. Auch Depressionen, Suchterkrankungen und Essstörungen werden mit verdrängter Wut in Verbindung gebracht.

 

Obwohl Wut ein extrem heftiges Gefühl ist, können wir, wenn wir genau hinschauen, vielleicht sogar ihre positiven Aspekte entdecken:

Sie hilft uns uns abzugrenzen und unseren eigenen Bereich abzustecken. Sie unterstützt dabei, uns selbst und unsere individuellen Grenzen wichtig und ernst zu nehmen und macht diese auch für andere sicht- und erlebbar.

Wenn es uns gelingt unsere Wut - vielleicht wie einen vorbeischauenden Gast - wahr- und anzunehmen, haben wir einen großen Schritt erreicht. Sie als ein Anteil von vielen in uns anzuerkennen, schafft den nötigen Abstand, um sich nicht vollständig mit ihr zu identifizieren. Und Schritt für Schritt - mit etwas Übung und Geduld - auch die Voraussetzung neugierig lauschend zu erforschen, was sie uns in Bezug auf unsere Grenzen und Bedürfnisse zu sagen hat.

 

Gerne begleite ich Sie bei diesem Prozess.

 

Wutanfälle bei Kindern

Kleinkinder bekommen Wutanfälle, weil ihr Gehirn aufgrund noch nicht voll ausgereifter neuronaler Verbindungen noch nicht so funktioniert wie das von Erwachsenen. Das heißt, ein wütendes Kleinkind ist weder bösartig, noch will es uns manipulieren oder gar seine Macht demonstrieren. Es wird einfach von seinen überbordenden Gefühlen komplett überrollt und verfügt noch nicht über entsprechende Regulationsmöglichkeiten oder Kommunikationsfähigkeiten, um sich für eine sozial verträglichere Art der Entladung entscheiden zu können.

Das heißt, Babys und Kleinkinder können ihre Emotionen rein körperlich noch nicht so gut kontrollieren. Denn erst ein entwickeltes Gehirn ermöglicht es unsere Impulse in Schach zu halten, bevor wir wütend werden oder die Kontrolle verlieren. Das liegt daran, dass zunächst nur der sympathische Zweig des autonomen Nervensystems ausgebildet ist. Dieser ist für Aktivierung, Wachheit, Spannung und Vitalität zuständig. Erst im Alter von gut drei Jahren reift der parasympathische Zweig, der die eigenständige Regulationsfähigkeit moduliert, vollständig aus und ermöglicht dem Kleinkind sich zunehmend ohne die co-regulierende Hilfe seiner Bezugspersonen selbständig wieder beruhigen und entspannen zu können.

 

Das heißt, es ist unsere Aufgabe als Erwachsene überaktivierte Kleinkinder mit liebevollen Worten und Gesten, großer Geduld und aufmerksamer Nähe wertschätzend und achtsam dabei zu unterstützen wieder herunterfahren und sich beruhigen zu können.

So herausfordernd es auch für uns Begleiter ist, wenn das Kind mit voller Wucht einen Wutausbruch durchlebt, so zutiefst verstörend - und damit viel schlimmer - ist es für das Kind selbst, von der Welle seiner nicht kontrollierbaren Emotionen mitgerissen zu werden und sich nicht selbst regulieren zu können.

 

Wenn wir uns mit dem Thema Wut beschäftigen ist die Scham oft nicht weit. Viele Kinder (und auch Erwachsene), die nach außen mit Wut reagieren, fühlen sich tiefst in ihrem Innern beschämt. 

 

Scham ...

Scham ist ein Gefühl, dass nur Menschen empfinden können, denn wer sich schämt muss ein Bewusstsein von der eigenen Persönlichkeit haben und gleichzeitig die Fähigkeit besitzen, sich selbst aus der Perspektive der anderen zu sehen. Aus diesem Grund kennen sehr kleine Kinder entwicklungspsychologisch noch keine Scham. Sie entwickelt sich etwa mit eineinhalb bis zwei Jahren, wenn das Kind ein Bewusstsein über die eigene Person in Abgrenzung zu anderen Menschen erlangt. 

 

Scham wird zumeist als Gefühl wahrgenommen, das unseren Selbstwert, unsere Identität und unser ICH demontiert. Während Schuldgefühle sich auf bestimmte Fehlhandlungen beziehen, zielt Scham auf das ganze Ich. Wer sich schuldig fühlt kann aktiv werden und das was falsch gelaufen ist korrigieren. Beschämte Menschen fühlen sich zumeist machtlos. Wir schämen uns nicht nur vor uns selbst, weil etwas vielleicht nicht unseren Ansprüchen gemäß gelungen ist, sondern sorgen uns darüber hinaus, die anderen können die Schmach bemerken und verurteilen. 

Wer sich beschämt fühlt, ist der Hilflosigkeit ausgeliefert. Das heißt Schamdynamik ist in der Regel durch einen Wechsel zwischen hoher "sympathischer" und hoher "parasympathischer" Erregung im autonomen Nervensystem gekennzeichnet und erfolgt in seinen Reaktionen nicht bewusst gesteuert, sondern vielmehr reflexhaft über das Stammhirn. Aus diesem subjektiven Erleben von Machtlosigkeit und Handlungsunfähigkeit ergeben sich instinktiv eigentlich nur zwei Optionen: Flucht oder Kampf.

Die einen ziehen sich zurück, versuchen zu verschwinden, resignieren oder brechen innerlich zusammen (und versinken in einer Art Depression oder Starre). Die anderen bündeln ihre Energie und Kraft und stürzen damit nach vorne in den Kampf und agieren ihre Scham zum Beispiel als Wut aus. 

 

Um Kinder behutsam aus der Scham heraus zu begleiten ...

spielt Ruhe und entspannte Gelassenheit eine wichtige Rolle. Wenn es gelingt, das Kind liebevoll durch seine Gefühle zu führen, kann sich das gesamte Nervensystem entspannen und der Körper produziert als Antwort auf ein Erleben von gesehen und angenommen sein Oxytozin - das Kuschelhormon, das auf Stresshormone regulierend wirkt.

Wichtig ist es, das Kind zu sehen und ihm ohne Besserwisserei zuzuhören. Ziel sollte es sein, weniger Vorschläge zu machen, als vielmehr darauf zu lauschen, was aus ihm selbst kommt und darauf zu vertrauen, dass seine Impulse richtig sein werden. Rat- und Vorschläge können im Erleben von Schamgefühlen viel zu dominant sein. 

 

Wer hier noch etwas tiefer einsteigen möchte, findet unten speziell zu gesunder und toxischer Scham noch mehr ...

 

 

Meine Mentorin und Ausbilderin Andrea Wandel beschreibt in Ihrem Beitrag zum Fach.Buch Hochsensibilität einfühlsam und eindrucksvoll die Phänomene der gesunden und toxischen Scham, wie sie aus meiner Sicht besser nicht dargestellt werden könnten. Ich danke ihr sehr für die Möglichkeit, den Beitrag hier zitieren zu dürfen!

 

"Jeder Mensch darf sich in den ersten Lebensjahren durch die gesunde Scham in eine Persönlichkeit hinein entwickeln. Selbstkontakt, innere Selbstbeobachtungsfähigkeit und Selbst-Identität durch klare und sichere Bindung entwickeln sich vor allem in den ersten zwei bis drei Jahren unseres Lebens. Mit gesunder Scham entwickeln wir klare Grenzen, Taktgefühl - "ich weiß, was sich gehört" -, soziales Gewissen, Demut und Toleranz. Empathie- und Liebesfähigkeit, Achtsamkeit und Resonanzfähigkeit entstehen auf dem Fundament einer gesunden Scham. (...) Gesunde Scham ist die zentrale Motivationskraft für Veränderung und Entwicklung. Sowohl Kreativität, Neugierde, Offenheit, Vertrauen als auch Mut, Klarheit, Sicherheit und vor allem die Erlaubnis Fehler zu machen, sind Zeichen gesunder Scham.

In der sicheren Bindung mit Bezugspersonen entwickelt sich die gesunde Scham als Fundament der sozialen Gesellschaft. Doch es gibt sehr viele Menschen, die die gesunde Scham nicht genügend erfahren haben und sich dann im Feld der toxischen Scham verlieren. Tatsächlich sprechen Menschen meistens dann über Scham, wenn sie sich auf die toxische Scham beziehen, die nichts mit der gesunden Scham zu tun hat. 

 

Toxische Scham

ist keine Emotion, sondern ein Seinszustand. Die innere Überzeugung bezieht sich auf das Selbst und nicht auf ein bestimmtes Verhalten. Bei der toxischen Scham ist die Hauptüberzeugung somit: "Ich bin furchtbar und schlecht", während sie sich bei der Schuld auf das eigene Verhalten bezieht und sagt: "Ich habe etwas Furchtbares getan. Was kann ich tun, um es wiedergutzumachen?" 

In der toxischen Scham dagegen herrscht die Überzeugung vor, dass es nichts gibt, das dieses Gefühl 'reparieren' kann. Es ist somit kein gesundes Gefühl mehr, das uns die Grenzen und die unserer Mitmenschen aufzeigt, sondern ein Seinszustand, der unsere Seele ganz in Beschlag genommen hat. Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht willkommen waren, kennen diesen Zustand nur zu gut: dazu gehören traumatisierte Menschen, deren Bezugspersonen ihre Liebe nicht ausdrücken konnten oder sie sogar gedemütigt und misshandelt haben, aber auch sehr viele hochsensible Menschen, deren besondere Art der Empfindung schon frühe Ablehnung erfahren hat. 

Um den Unterschied zwischen toxischer Scham und Schuld zu verstehen, ist es wichtig zu erkennen, womit wir es im Einzelfall zu tun haben. Toxische Scham entwickelt sich aus der gesunden Scham. Werden Babys und Kleinkinder in überaktivierten Scham-Erregungszuständen zu lange allein gelassen, kann das überwältigte Nervensystem die Erregung nicht verarbeiten und spaltet sie in nicht bearbeitbare Zustände ab. Diese abgespaltenen Anteile der Persönlichkeit übernehmen jedoch häufig die Führung im späteren Leben. Sie sind dann unbewusst aktiv in diversen Verhaltensweisen anzutreffen. 

(...) Toxische Scham kann sich zum Beispiel in Perfektionismus und Kontrolle, einer narzisstischen Persönlichkeit und Größenwahn, Gewaltbereitschaft, kriminellen Zügen, Rückzug oder Kampf, Wut oder gar in paranoiden Tendenzen zeigen. Natürlich variiert die Ausprägung dieser Merkmale stark.

Die meisten Betroffenen fühlen sich getrennt und verfügen über einen ausgeprägten inneren Kritiker: Sie glauben, dass sie ihr "echtes Selbst" tagtäglich verstecken und verheimlichen müssen. Das kostet unheimlich viel Kraft und kann zu Depressionen führen, weil unbewusst um den Verlust des wahren Selbst getrauert wird. Die einhergehende Hoffnungslosigkeit ist vielen Hochsensiblen sehr vertraut. In jedem Fall bestimmt die toxische Scham permanent unser Leben, solange sie im Verborgenen bleibt.

Für mich ist die Integration der toxischen Scham in den Begleitungsprozess traumatisierter und hochsensibler Menschen daher essenziell, um die Flexibilität wieder herzustellen, die für posttraumatisches Wachstum, Resilienz oder gar Antifragilität unersetzlich ist. 

 

Die Heilung

toxischer Scham bedarf eines sicheren und bewertungsfreien Raumes, der durch Anerkennen und Zuhören, Authentizität und das Angebot von Struktur gestaltet wird. Weniger tun und mehr sein bringt es meines Erachtens auf den Punkt. Im Wesentlichen geht es um Bewusstseinsbildung um den Kern der Scham herum."

 

Quelle: Andrea Wandel in: Jutta Böttcher (Hg.): Fach.Buch Hochsensibilität: Worauf es in der Begleitung Hochsensibler ankommt. Fischer & Gann 2018; ISBN 978-3-9030-7266-4, S. 117 ff.